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  • AutorenbildAnnette Heinrich

37 Grad: Ich bleibe immer positiv! Starke Frauen mit HIV

ZDF | Sendedatum: 26.10.2010, 22:15 Uhr





„Als ich von meiner Infektion erfuhr, brach für mich eine Welt zusammen. Ich hatte eine Mega-Angst, dass ich nicht mal 30 werde…“, erinnert sich Doreen aus Braunschweig an die erschütternde Diagnose. Mit 17 Jahren steckt sie sich mit der Immunschwächekrankheit HIV an – bei ihrem ersten Freund. „Es gab ’ne Zeit, da habe ich mich gefragt: Warum ich?“ Nach dem Schock und der Angst kamen die Depressionen – aber auch Heimlichtuereien und unzählige Lügen. Von ihrer Krankheit soll keiner etwas erfahren. Doreen fürchtet sich davor, ausgegrenzt und geächtet zu werden. Auf der Arbeit spielt sie die „Grinseprinzessin“. Wie düster es in ihr aussieht, bekommt niemand mit. Heimlich schluckt sie die Tabletten, ohne die sie heute nicht mehr leben würde. Nur Sandy, Doreens beste Freundin und Arbeitskollegin, ist eingeweiht. „Das war schon eine große Hilfe, dass sie da war…“ Als ihr das ständige Versteckspiel unerträglich wird, nimmt Doreen endlich ihren ganzen Mut zusammen und informiert Arbeitgeber, Kollegen und Freunde von ihrer HIV-Infektion. Betroffenheit und Ängste weichen schnell der Normalität. Für Doreen ein echter Befreiungsschlag. Sie engagiert sich in der Aidshilfe und lebt ihr eigenes Leben von nun an bewusster. „Seit der Infektion weiß ich erst, was Leben heißt!“ Das zierliche Energiebündel „sammelt“ schöne Erinnerungen für schlechte Zeiten, die kommen könnten. Kürzlich hat sie ihren 30. Geburtstag gefeiert. „Da dachte ich mir dann, ok, jetzt schaffst Du auch den 40. und auch den 50.!“ Am liebsten mit einem Mann und Kindern – davon träumt sie als Single in der Großstadt am meisten…


Patricia ist schwanger. Doch ungetrübte Freude kann die 30-Jährige nicht empfinden: „Ich hab‘ eine Riesenangst, mein Kind zu infizieren. Und die begleitet mich Tag und Nacht.“ Keine leichte Zeit für die junge Frankfurterin. Bereits der Beginn ihrer Schwangerschaft war von Sorgen überschattet. „Ich hätte mir es nie verziehen, wenn ich bei der Verhütungspanne meinen Freund mit dem HI-Virus angesteckt hätte.“ Doch Patricias Lebensgefährte hat Glück gehabt. Um eine Virusübertragung auf ihr Kind zu verhindern, tut sie alles. Peinlich genau hält Patricia ihren Therapieplan ein, den Dr. Annette Haberl, Leiterin der Spezialsprechstunde des HIV-Centers der Uniklinik Frankfurt, ausgearbeitet hat. Das Übertragungsrisiko wird damit auf unter zwei Prozent herabgesenkt. Doch ein Restrisiko bleibt, das weiß die gelernte Arzthelferin aus Erfahrung. Als Luca im März dieses Jahres gesund zur Welt kommt, fließen bei der sonst immer so starken Patricia Tränen der Erleichterung: „Ich bin so glücklich, Mama zu sein und einen Partner zu haben, der zu mir hält und mich unterstützt.“ Gemeinsam müssen Patricia und ihr Freund die nächsten drei Monate durchstehen – erst dann kann eine Blutuntersuchung klären, ob Luca wirklich HIV-negativ und außer Gefahr ist. Auch diese Belastungsprobe besteht die starke Frau tapfer. Mit Ängsten kann sie umgehen – sie musste es früh lernen. Während andere eine unbeschwerte Jugend genießen, versuchte sie, mit der Diagnose „HIV-positiv“ klarzukommen. Ihr erster Freund hatte sie mit dem Virus infiziert. Doch Patricia war schon immer eine Kämpferin. „Es gab für mich nur den Weg nach vorne!“ Geoutet zu leben, ist für die 30-Jährige genauso selbstverständlich, wie auch mit ihrem Sohn von Anfang an offen über ihre Krankheit zu sprechen. „Ich kann ihn nur vor den möglichen Anfeindungen schützen, indem ich ihm gegenüber ehrlich bin und ihn stark mache.“


Was für Patricia so selbstverständlich ist, stellt für Louisa (Name geändert), die vor der Kamera nicht erkannt werden möchte, das größte Problem ihres Lebens dar. Die 39-Jährige ist Mutter von fünf Kindern und als Einzige aus ihrer Familie mit dem HI-Virus infiziert. „Das Schlimmste an meiner Krankheit ist, dass ich mit niemandem darüber reden kann. Nicht einmal mit meinen eigenen Kindern.“ Seit fünf Jahren schweigt sie tapfer und behält ihre Sorgen und Nöte für sich. Unter dem seelischen Druck scheint Louisa an manchen Tagen fast zu zerbrechen. „Dann fehlt mir die Kraft, aufzustehen, Schulbrote zu schmieren oder meinen Kindern abends noch eine Gutenacht-Geschichte zu erzählen. Früher habe ich meinen Kindern alles gegeben, heute bin ich oft zu schwach für die einfachsten Dinge.“ Louisas Kinder spüren die Veränderung ihrer Mutter. „Wenn sie sich manchmal enttäuscht umdrehen, weil ich nicht auf sie eingehen kann, bricht mir das Herz“, stößt Louisa unter Tränen hervor. Der Wunsch, endlich die Wahrheit sagen zu können, ist grenzenlos. Doch fast genauso groß ist ihre Angst, dass alles außer Kontrolle gerät, dass sie und ihre Kinder geächtet und ausgegrenzt werden. „HIV-positiv zu sein, wird von vielen als etwas Schmutziges gesehen, etwas, für das man sich schämen muss und an dem man selbst schuld ist…“ Infiziert hat sich Louisa während einer kurzen Beziehung nach ihrer ersten gescheiterten Ehe. Die Diagnose bekam sie, als sie sich mit ihrem zweiten Ehemann auf ihr erstes gemeinsames Kind freute: „Es war in der sechsten Schwangerschaftswoche – es war, als würde die Welt stillstehen…“ Louisas Mann hält zu ihr. Doch wie sie mit ihrer Krankheit leben soll, kann auch er ihr nicht sagen. „Mir würde so eine Riesenlast von den Schultern fallen, wenn ich nicht mehr lügen müsste – vielleicht habe ich eines Tages den Mut dazu…“


Was Patricia und Doreen bereits geschafft haben, haben Louisa und mit ihr die meisten HIV-positiven Frauen in Deutschland noch vor sich: offen, ohne Schamgefühle oder Angst vor Ausgrenzung mit der Immunschwächekrankheit zu leben. Dies ist auch in unserer aufgeklärten Gesellschaft noch immer die große Ausnahme. Vor allem, wenn die eigenen Kinder vor möglicher Stigmatisierung und Anfeindung geschützt werden sollen, stellen betroffene Frauen ihre eigenen Nöte und Bedürfnisse hinten an, lernen zu schweigen, zu lügen und stumm zu leiden. Laut einer Schätzung leben nur drei von 100 HIV-positiven Frauen geoutet. Es braucht daher die Bilder von mutigen Frauen, die bereit sind, die Mauer des Schweigens zu durchbrechen und zu ihrer Krankheit zu stehen. Einer Krankheit, die nicht nur in gesellschaftlichen Randgruppen zu finden ist, eine Krankheit, die sich gerade jetzt wieder ausbreitet, weil niemand über sie sprechen will und scheinbar niemand davon betroffen ist.


Der Film „Ich bin immer positiv!“ erzählt von drei starken Frauen, die sich trotz ihrer Immunschwächekrankheit nicht unterkriegen lassen wollen. Drei Frauen, die ihrer Krankheit, herrschenden Vorurteilen, Ängsten und Anfeindungen trotzen und sich das „Frausein“ nicht nehmen lassen. Sie leben ihr Leben, und sie tun dies positiv, unbeirrt und in berechtigter Hoffnung – auf gesunde Kinder, auf aufrichtige Freundschaften, auf glückliche Beziehungen und auf viele unbeschwerte Jahre.

Verleihung des Medienpreises 2011 der Deutschen AIDS-Stiftung

für die Fernsehdokumentation „Ich bleibe immer positiv! Starke Frauen mit HIV“


Auszeichnung für Annette Heinrich (Buch und Regie) und Philip Flämig (Kamera)

Begründung der Jury:

„Die Dokumentation porträtiert drei HIV-positive Frauen – in sehr unterschiedlichen

Lebenssituationen.

Annette Heinrich und Philip Flämig begleiten die hochschwangere Patricia, die Mutter eines gesunden Kindes wird. – Sie stellen Doreen vor, die nach Jahren der Depression – über den offenen Umgang mit der Infektion – neuen Lebensmut gefunden hat. – Und sie lassen uns Anteil nehmen an der beklemmenden Situation von Louisa. Sie hält die Infektion selbst vor ihren Kindern geheim – aus Angst vor einer Stigmatisierung ihrer Familie. Louisa hat über die Dreharbeiten die Kraft gefunden, sich nicht länger zu verstecken. Im Film ist sie noch anonymisiert. Diese anonymisierenden Passagen verweisen auf das generelle Problem vieler HIV-positiver Frauen.

Nur sehr wenige Frauen sprechen offen über ihre Infektion – nur 3 von 100, heißt es. Diese

Zahl weist die Wichtigkeit des Films aus – und steht gleichzeitig für die Schwierigkeit, ein

solches Projekt zu realisieren. Annette Heinrich ist es gelungen, drei Protagonistinnen zu

finden, die sehr persönlich über ihre Situation sprechen – mit Momenten großer Intimität. Sie hat das Vertrauen der drei Frauen gewonnen – und eine ungewöhnliche Nähe erreicht. Es sind drei Porträts entstanden, die sich zu einem viel-sagenden Bild ergänzen. Die

Dokumentation zeigt einerseits die Probleme, die ein Bekenntnis schwer machen – und

ermutigt andererseits zur Konsequenz des offenen, befreienden Umgangs mit der Infektion.

Der Film ist ein Plädoyer für Selbstverständlichkeit.

Gleichzeitig geraten Themen in den Fokus, bei denen es – mit Blick auf ein heterogenes

Publikum – gewiss noch Aufklärungsbedarf gibt. Dazu gehört das Thema „Kinderwunsch und Schwangerschaft bei einer Infektion mit dem HI-Virus“. Am Beispiel von Patricia macht der Film die Therapiemöglichkeiten und das Restrisiko klar.

Zu der Offenheit und Intimität, die der Film erleben lässt, hat die sensible Kameraarbeit von Philip Flämig ganz wesentlich beigetragen. Seine Bilder führen uns die drei Frauen sehr authentisch vor Augen. Die Aufnahmen demonstrieren, dass das erwähnte Vertrauen den Kameramann einbezog. Nur so können Bilder solcher Nähe entstehen. Sie heben Philip Flämig in den Rang eines Ko-Autors. – Besonders hervorzuheben sind daneben die

Bildideen zur Anonymisierung von Louisa, die in ihrer vielfältigen Gestaltung einzigartig sind. Sie heben sich von konventionellen Anonymisierungen ab, die die Protagonisten eher verschwinden lassen und darüber Filmen abträglich sind. Philip Flämigs Bilder halten Louisa stets präsent.

Die Dokumentation „Ich bleibe immer positiv! Starke Frauen mit HIV“ widmet sich einem

vernachlässigten Thema. Das Autoren-Team Annette Heinrich und Philip Flämig hat – ganz im Sinne der Ausschreibung des Medienpreises – einen Film gedreht, der „von Empathie geprägt“ ist. Hier verbinden sich Aussage-Kraft und professionelle Gestaltung in ebenso überzeugender wie bewegender Weise.“

Bernd Schmidt


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