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  • AutorenbildAnnette Heinrich

37 Grad: k.o.-getropft. Leben nach dem Filmriss.

ZDF | Sendedatum: 15.05.2018. 22.15 Uhr

Buch und Regie: Annette Heinrich




„Ich weiß noch, dass mir einer der Jungs einen Drink ausgegeben hat. Wir haben gelacht und getanzt – und dann wird es dunkel mit meinen Erinnerungen. Wie eine Art Filmriss.“ Früh am Morgen wacht Nina aus München in einem Park auf. Sie liegt in einem Gebüsch, mit heruntergezogenem Slip und dem schrecklichen Gefühl, vergewaltigt worden zu sein. Doch wie sie hier her gekommen ist und was nach dem Partyabend genau geschah wird nie geklärt werden. Zwar geht sie am nächsten Tag, unterstützt von ihrer Schwester Mona, zur Polizei und lässt sich rechtsmedizinisch untersuchen. „Sie war ganz apathisch und hilflos wie ein Kind“ erinnert sich Mona. Aber es sind zu viele Stunden vergangen, um noch mögliche K.o.-Tropfen in ihrem Blut oder Urin nachweisen zu können. Die damals 30-Jährige fühlt sich durch die konfrontativen Fragen der Ermittler in ihrer Glaubwürdigkeit angezweifelt. „Eine zusätzliche Belastung und ein sehr bitteres Gefühl.“ Und als schließlich die Laborergebnisse vorliegen, fällt Nina in ein noch tieferes Loch. DNA-Spuren beweisen, dass sich mindestens zwei unbekannte Männer in der Tatnacht an der jungen Frau sexuell vergangen haben.





Auch die 24-jährige Lulu aus Kiel wurde von zwei Männern vergewaltigt. Es waren Bekannte, die das Mädchen vor einem Jahr zu Hause besuchte, um einen netten Abend zu verbringen. Sie servieren ihr ein extrem süß schmeckendes Getränk und bald darauf erlebt Lulu den Albtraum ihres Lebens. „Ich konnte mich nicht mehr bewegen, ich war komplett gelähmt und konnte nicht mal schreien oder um Hilfe rufen.“ Die Männer haben die ihr Opfer mit einem Nervengift betäubt, um sich auf schrecklichste Weise an ihr zu vergehen und dies auch noch zu filmen. „Es war wie Sex mit einer Toten“, beschreibt Lulus Anwältin die auf Video gebannte Tat später tief erschüttert. „Absolut niederträchtig und grausam.“ Als die Täter kurz von der jungen Frau ablassen, muss sie sich übergeben und erstickt beinahe. „Ich habe gedacht, jetzt sterbe ich. Denk nochmal an deine Liebsten und dann ist es vorbei…“ Doch im letzten Moment drehen ihr die Täter den Kopf zur Seite und verhindern das Schlimmste. Immerhin. Am nächsten Morgen kann sich Lulu wieder bewegen. Es gelingt ihr, aus der Wohnung ihrer Peiniger zu flüchten und mit Hilfe ihres Freundes Philip die Polizei zu alarmieren. Lulu wird im Krankenhaus versorgt, die Täter kommen in Untersuchungshaft.





Der junge Mann, der Felinas Zustand absoluter Hilflosigkeit ausnutzt und Sex mit ihr hat, wird dagegen nie für seine Tat belangt. Die heute 21-Jährige aus Schwerte feiert vor dreieinhalb Jahren mit Freunden auf einem Abiball, als ihr plötzlich schlecht wird. Sie geht nach draußen, weiß noch, dass ihr Körper ihr nicht mehr gehorcht und sie sich auf der Wiese hinter der Veranstaltungshalle heftig übergeben muss. „Ich hatte schreckliche Angst und dann ist da nur noch Schwarz.“ Ein ehemaliger Mitschüler ist bei ihr. Mit ihm hat sie sich auf der Feier unterhalten. Doch statt Hilfe zu rufen, nimmt er das völlig weggetretene Mädchen mit nach Hause. Laut seiner späteren Aussage will sie trotz großer Übelkeit Lust gehabt haben, mit ihm zu schlafen. Von all dem weiß die damals 17-Jährige nichts mehr. Felinas Erinnerungen setzen erst wieder ein, als sie am nächsten Morgen nackt in einem fremden Bett, aufwacht. „Ich wusste, dass etwas Schreckliches passiert ist, doch wollte das erstmal nicht an mich ranlassen.“ In diesem Moment läuft bereits seit Stunden die fieberhafte Suche nach dem jungen Mädchen, das in der Nacht nicht nach Hause gekommen ist. Felinas Eltern und Freunde befürchten das Schlimmste, vor allem, als das Handy des Mädchens auf der Wiese gefunden wird. Auch der junge Mann, der sich um die Schülerin „gekümmert“ haben will, erfährt über einen Facebook-Aufruf von dem Aufruhr und gibt Felina ein Telefon, um ihre Familie anzurufen. Felina lässt sich von ihrer Mutter ins Krankenhaus fahren und umfassend untersuchen. Sie will Gewissheit darüber, was sie in dieser Nacht passiert ist. Doch bis die Ergebnisse vorliegen, vergehen Wochen. Wochen, in denen sie DAS Gesprächsthema der Schule ist. „Eigentlich hat fast jeder gedacht, sie hätte zu viel getrunken, sei mit ‘nem Typen abgestürzt und würde das mit den K.o.-Tropfen nur als Ausrede benutzen“, resümiert eine Freundin. Felina leidet unter den Gerüchten, sie schämt sich und zweifelt an ihrer eigenen Wahrnehmung. Erst als die Untersuchungsergebnisse beweisen, dass sie mit einem Medikamentencocktail betäubt wurde, geht es ihr etwas besser. „Da wusste ich, dass ich mir selbst glauben kann und definitiv das Opfer bin.“ Dennoch reichen diese Tatsachen nicht aus, um dem jungen Mann einen Prozess zu machen. Das Verfahren wird eingestellt.





Ähnlich ist es auch in Ninas Fall, in dem die Vergewaltiger nicht ermittelt werden können. Lulus Peiniger werden zu drei Jahren Haft verurteilt. Doch für alle drei Frauen geht der Kampf auch lange nach der Tat weiter. Sie leiden unter Ängsten, Panikattacken, Albträumen, Schuldgefühlen, Ekel und Selbsthass. „Ich habe meinen Körper und meine Persönlichkeit voneinander abgespalten und konnte keine Liebe für mich aufbringen“, erzählt Nina. „Nichts ist mehr, wie es mal war“, sagt Felina. Und wie sie hatten die beiden anderen große Probleme damit, nach der Tat wieder in den Alltag zu finden oder überhaupt weiterzumachen. Lulu wünscht sich länger, „einfach gestorben zu sein.“ Doch die Frauen geben nicht auf. Und sie haben Unterstützung aus ihrem nächsten Umfeld – Familie, Freunde, Partner, aber auch Therapeuten, Anwälte und Mitarbeiter des Opferschutzes. Sie helfen den Frauen, sich ihren Ängsten zu stellen, um ihr Recht zu kämpfen und sich nicht zu vergraben. „Ich glaube, dass die Chance besteht, dass man auch nach so etwas Schrecklichem wieder heilen kann. Aber man muss seinen eigenen Weg finden, damit umzugehen“, meint Nina. Felina und Lulu wollen sich ebenfalls nicht von Wut, Schmerz und Ohnmacht einnehmen lassen. „Ich bin schließlich mehr als diese Nacht!“ sagt Felina entschlossen.




Aus Sicht der Autorin


Ich bin über 40 und gehe trotzdem noch gerne feiern. Dann tanze ich, lache, rede mit Freunden und Fremden und natürlich wird auch was getrunken. Nicht immer wache ich dabei mit Adleraugen über mein Glas. Und natürlich vertraue ich darauf, dass mir meine Bekannten nichts Böses wollen, wenn sie mir einen Drink von der Bar mitbringen.


Dass mir bis heute bei sämtlichen Partys, Feiern und Festen nichts Schlimmes passiert ist, hat ganz viel mit Glück zu tun, wie ich spätestens nach meinem Film über K.o.-Tropfen weiß. Schon bei den Recherchen habe ich die haarsträubendsten Dinge gehört, die einen den Glauben an das Gute verlieren lassen können. Ich habe mit unzähligen Frauen gesprochen und geschrieben. Frauen, die weniger Glück gehabt haben als ich und die Traumatisches erleben mussten. Manche haben verstörende Bilder im Kopf, Erinnerungsfetzen und diffuse Eindrücke, die sie auch noch Jahre nach den sexuellen Übergriffen unter K.o.-Tropfen-Einfluss heimsuchten. Andere haben gar keine Erinnerung. Doch das Leben mit einem Filmriss scheint nicht zwingend einfacher als das Leben mit verstörenden Bildern. Vor allem, weil der Körper offenbar weitaus mehr „erinnert“ und abspeichert als der Kopf. Dann können vermeintliche Kleinigkeiten – das Klirren eines Glases, ein bestimmter Geruch, der Stoff eines Sofabezuges oder ähnliches – wie ein Trigger wirken und eine Panikattacke auslösen. Herzrasen, Angstschweiß, Atemnot, all das stürmt dann auf die Betroffenen ein und sie durchleben den Albtraum ohne Vorwarnung erneut.


Alle betroffenen Frauen, die ich kennen lernte, haben der Kontrollverlust und die ohnmächtig machenden Erlebnisse schwer traumatisiert. Das Leben danach ist nicht mehr, wie es vorher war. Die Rückkehr in den Alltag – so wichtig er ist – schaffen die meisten erst einmal nicht. Zu heftig ist die Verletzung, zu schwer wiegen der Verlust des Vertrauens und der Leichtigkeit. Und zu groß ist die Scham.


Gerade das hat mich unheimlich wütend gemacht. Wie kann es sein, dass sich ein Mensch – egal ob Mann oder Frau – schämen muss, wenn ihm Gewalt angetan wurde? Natürlich müssen ermittelnde Behörden konfrontativ befragen wenn es zu einem Verbrechen gekommen sein soll. Natürlich muss sichergestellt werden, dass niemand zu Unrecht einer Vergewaltigung beschuldigt wird. Doch leider scheint dabei häufig das Verständnis für die Opfer zu leiden – und in manchen Fällen sogar ganz zu fehlen. Viele Frauen erzählten mir, wie unwohl sie sich bei der Polizei gefühlt hätten. Wie deutlich sie das Misstrauen empfunden hätten, das man ihren Schilderungen entgegen brachte. Als seien K.o.-Tropfen eher eine Mär und oft genutzte Ausrede, um von einem Alkoholabsturz abzulenken.


Sicher ist das auch etwas naiv – aber mir sagt mein normaler Menschenverstand, dass sich wohl nur wenige Frauen freiwillig den Strapazen einer Vernehmung und rechtsmedizinischen Untersuchung aussetzen, nur um nicht zugeben zu müssen, über den Durst getrunken und sich mit jemandem amüsiert zu haben. Vor allem dann nicht, wenn die Betroffenen nicht mal einen konkreten Täter benennen (sprich beschuldigen) können.


Nur weil sich die Substanzen so schnell im Körper verflüchtigen, dass sie selten noch nachgewiesen werden können, heißt es nicht, dass die Taten nicht passieren. Dass junge Mädchen und Frauen nicht viel häufiger Opfer von K.o.-Tropfen werden, als strafrechtlich verfolgt wird. K.o.-Tropfen-Delikte als solche werden ohnehin nicht statistisch erfasst. Es scheint, als würde das Thema nach wie vor nicht wirklich ernst genommen. Dabei ist die Gefahr real und nicht zu unterschätzen. Insbesondere wenn man stark narkotisierende Substanzen, die sogar tödlich wirken können, rezeptfrei und problemlos im Internet bestellen kann. Angesichts dieser Fakten wünschen sich die Betroffenen im Verdachtsfall zumindest unmittelbare menschliche Reaktionen, ein paar beruhigende Worte, den Hinweis auf psychologischen Beistand, Empathie und grundsätzliches Wohlwollen bei einer Befragung. Das könnte vielen Frauen den Gang zur Polizei unglaublich erleichtern und vor allem eines – keinen Raum für falsches Schamgefühl lassen.


Dass sie dieses nicht zugelassen haben und dass sie sehr offen und mutig waren, mir ihre Geschichten anzuvertrauen, dafür bin ich „meinen“ Protagonistinnen mehr als dankbar! Nina, Felina und Lulu haben mich tief beeindruckt mit ihrem Willen, sich nicht von den traumatischen Erlebnissen einsperren und unterkriegen zu lassen. Sie haben mir imponiert mit ihrer Stärke, sich mit den Geschehnissen auseinanderzusetzen, sich Hilfe zu suchen und gleichzeitig auch nach vorne zu schauen. Trotz des schweren Themas waren die Drehtage oft lustig und die Mädels manchmal richtig mitreißend mit ihrer Lebensfreude. Ihr Wunsch, aufzurütteln, Sprachrohr für all jene zu sein, die nicht zu sprechen wagen, vor allem aber anderen betroffenen Frauen Mut zu machen, ist kein Lippenbekenntnis, sondern gelebte Überzeugung. Man kann auch nach einem solchen Erlebnis wieder „heilen“, meint Nina. „Man muss natürlich auch bereit sein, wirklich was dafür zu tun. Nicht aufgeben, sich nicht kleinkriegen lassen und weiter kämpfen und für sich einstehen.“ Ein sehr wahrer Satz, den ich, wie sehr viele andere eindrückliche Momente aus dem Dreh mitnehmen werde!

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