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  • AutorenbildAnnette Heinrich

37 Grad: Neustart – Befreit von aller Schuld

ZDF | Sendedatum: 17.01.2012, 22:15 Uhr


Buch & Regie: Annette Heinrich





Manchmal schreibt das Leben die unglaublichsten Geschichten – dies ist eine davon.

An einem Spätsommerabend vor 19 Jahren verändert sich das Leben von Danny (45) und Florian (35) auf dramatische Weise. Danny, damals noch Lkw-Fahrer bei einem großen Speditionsunternehmen, kommt von einer Tour aus Norddeutschland. Florian und sein älterer Freund sind mit Stefans Motorrad auf dem Rückweg von Holland nach Darmstadt. Es ist regnerisch, die Jungs sind müde und machen einen kurzen Zwischenstopp an der Raststätte Hunsrück. Als sie wieder losfahren, passiert es: Stefan gerät auf der Autobahnauffahrt zu weit nach links – und es kracht. „Ich dachte im ersten Moment, ich hätte Fracht verloren, aber als ich die Autos hinter mir hektisch bremsen sah, bekam ich ein flaues Gefühl im Magen“, erinnert sich Danny. „Ich sprang aus dem Wagen, rannte nach hinten und dann sah ich die Katastrophe.

Überall war Blut, dann sah ich ihn da liegen mit völlig zerschmetterten Beinen…“ Stefan hatte Glück im Unglück, er war auf den Grünstreifen geschleudert worden und nahezu unversehrt. Doch Florian hatte es erwischt…

In der Unfallnacht ringen Ärzte und Spezialisten um sein Leben. „Zwischendurch habe ich gedacht, es wäre besser, wenn er es nicht schafft. Die Verletzungen waren wirklich extrem“, erinnert sich der Chirurg Dr. Georg Adamidis. Doch Florian ist zäh. Er übersteht das künstliche Koma, übersteht die Nachricht, dass er bei dem Unfall beide Beine verloren hat, und er übersteht mehr als 50 Operationen, zwei harte Jahre im Krankenhaus, monatelange Reha-Maßnahmen, Schmerzen, Ängste, Isolation und vieles mehr. „Ich wollte immer leben – aufgeben kam einfach nicht in Frage!“ erzählt Flo, dem auch sein Glaube sehr viel Halt gibt.

Doch von all dem ahnt Lkw-Fahrer Danny nicht das Geringste. Jeden Tag nach dem Unfall erkundigt sich der Stolberger nach dem Befinden des verunglückten Jungen. „Er ist an den Verletzungen gestorben“, sagt ihm die Rechtsabteilung seines Speditionsunternehmens drei Wochen später. Offenbar ein Irrtum – ein tragischer Irrtum, der sich von nun an wie ein schwerer Schatten auf Dannys Leben legt.

„Ich habe einen Menschen getötet: Dieser Satz hämmerte 19 Jahre lang in meinem Kopf, meinem Herzen“, erzählt Daniel. „Ich bin seitdem ein anderer Mensch, niemals mehr fröhlich und unbeschwert. Ich habe selbst drei Kinder und kann mir den Schmerz vorstellen, den seine Eltern empfunden haben müssen.“ Seine Ehe scheitert, er leidet an Alpträumen, Panikattacken und erdrückenden Schuldgefühlen – auch wenn er nur zufällig in den Unfall verwickelt wurde. Danny macht einige Therapien, mit mäßigem

Erfolg; seinen Beruf als Lkw-Fahrer, eigentlich sein Traumberuf, gibt er schließlich auf. Dann lernt er Dagmar, seinen „Sechser im Lotto“, seine große Liebe, kennen. Doch auch sie kann nicht verhindern, dass sich Danny mehr und mehr zurückzieht, die Lebensfreude verliert und immer schlechter gegen die Depressionen ankommt.

„Der Unfall hat mein ganzes Leben verändert. Ich will mal vorsichtig behaupten, dass ich ohne Beine mehr erreicht habe, als mit Beinen möglich gewesen wäre“, sinniert Florian. Dass er mit Nachnamen Sitzmann heißt, ist für ihn zu einer Bestimmung geworden. Nach seinem Unfall kämpft er sich als „halber Mann aber ganzer Kerl“ zurück ins Leben, für das er sich keine Grenzen setzt: Der 35-Jährige ist Extremsportler, Vater einer 4-jährigen Tochter, Frauenschwarm, Motivationstrainer, engagierter Streiter für karitative Zwecke und Buchautor. Als solcher ist er schließlich auch Anfang 2011 zu Gast in der Talkshow „Plasberg persönlich“ und erzählt von seinem Leben. Wie durch ein Wunder schaut Danny zur gleichen Zeit vor dem Fernseher und zappt genau im richtigen Moment in die Sendung. „Wie festgenagelt saß ich in meinem Sessel – fassungslos, gebannt. All die Details, die perfekt ins Bild passten. Und auf einmal war mir klar: Dieser Mann ist der Junge von damals, der Junge, den ich überrollt und 19 Jahre für tot gehalten habe!“ Daniels Stimme zittert, als er von diesem Moment erzählt. „Ich hab geweint und die Zentnerlast auf meiner Brust war mit einem Mal verschwunden.“





Jetzt will er Florian wiedersehen, ihn um Verzeihung bitten, sich davon überzeugen, dass es ihm gut geht, sich mit ihm anfreunden, wenn’s passt – und endlich anfangen zu leben! Und er möchte endlich eine Umschulung machen, denn noch

immer fürchtet der heutige Busfahrer Unfälle…


Wir begleiten Danny und Florian auf ihrer Reise von der Vergangenheit bis zu ihrem Wiedersehen im Sommer 2011. Wir dokumentieren diese unglaubliche Geschichte, die zwei Menschen auf tragische Weise miteinander verbunden hat, und die wider alle Logik ein unerwartet glückliches Ende findet. Für beide bedeutete der Unfall einen Neustart ins Leben – für den einen früher, für den anderen 19 Jahre später…


Aus Sicht der Autorin


Eine unglaubliche Geschichte –

Geschenk und große Verantwortung zugleich


Nur selten fallen einem als Autor richtig gute Geschichten buchstäblich in den Schoß. Das meiste muss sorgfältig erdacht, recherchiert und hinterfragt werden. Der Zufall oder besser das Schicksal, wenn man den Protagonisten des Films glauben mag, hat mir diese unglaubliche Geschichte ganz federleicht vor die Füße geweht. Ich musste bloß zugreifen. Paradox daran ist eigentlich nur, dass ich es mir gerade mit diesem Film nicht wirklich leicht gemacht habe…


Aber zurück zum Anfang. In den Schoß fiel mir die Geschichte deshalb, weil ich Florian Sitzmann schon seit ein paar Jahren sehr gut kenne. Wir hatten uns durch Freunde kennengelernt. Als strahlendes, Sprüche klopfendes und beeindruckend geradliniges Gute-Laune-Paket, das er ist, habe ich ihn direkt ins Herz geschlossen. Als Filmemacherin habe ich natürlich auch seine große Präsenz und seine Redegewandtheit bemerkt und schnell von seiner Lebensgeschichte erfahren. Mir war klar, dass ihn diese Kombination zu einem perfekten Protagonisten für eine Reportage macht. Aber das haben schon einige andere Autoren vor mir entdeckt und ein paar schöne Beiträge mit ihm realisiert.


Seine Geschichte war schon erzählt – und so blieb Flo für mich einfach ein guter Freund, der er ist. Doch Anfang des Jahres rief er mich an und erzählte mir von Dannys Mail und dieser unglaublichen Verkettung von Zufällen, welche die beiden nach 19 langen Jahren wieder zueinander geführt hatten. Ich wusste sofort: Diese Geschichte will ich erzählen! Unbedingt! So etwas kann eigentlich gar nicht passieren – und hätte man es auf dem Papier entworfen, so würde es niemand glauben. Auch Florian hatte sofort an eine Reportage gedacht und mich darauf angesprochen.


Von der Idee zum Film braucht es vor allem: Geduld!

Wenn man von einer solchen Geschichte erfährt, klopft einem sofort das Herz - und natürlich beginnen auch direkt die Gedanken zu rasen. Es ist klar, dass ich beim ersten Wiedersehen der Beiden dabei sein will, muss. Das ist quasi der Höhepunkt des Films, alles, worauf die Vorgeschichten hinarbeiten. Und so etwas kann, darf man nicht inszenieren. Also musste ich Flo und Danny bitten, mit ihrem Kennenlernen noch etwas zu warten. Eine schwere Bitte, wenn man bedenkt, was Danny 19 Jahre lang erduldet hat. Und natürlich musste ich mir zuallererst ein persönliches Bild von Danny, dem Unfall-Fahrer, machen. Selbst die unglaublichste Geschichte würde verpuffen, wenn er kein Vertrauen zu mir fassen könnte oder wenn er nicht in der Lage wäre, das Erlebte in Worte zu fassen. Aber auch hier hatte ich großes Glück. Nach mehreren langen Telefonaten besuchte ich Danny und seine Freundin Dagmar in Stolberg. Es war ein richtig herzliches Treffen, und ich lernte Danny als sehr tiefgründigen, emotionalen Menschen kennen, der seine Worte sorgfältig abwägt und der nichts auf die leichte Schulter nimmt. Am Ende dieses Tages entschied er, sich auf das Abenteuer Film einzulassen – mit allen Konsequenzen. Das heißt auch, das ersehnte Wiedersehen mit Florian auf unbekannte Zeit zu verschieben. Ein sehr großes Opfer.


In Windeseile brachte ich das Exposé zu Papier und konnte meine Redakteurin für das Projekt begeistern. Doch der Gang durch die Institutionen eines Senders braucht eben seine Zeit. Zeit, die meine Protagonisten eigentlich nicht hatten, die sie sich aber tapfererweise genommen haben. Im Sommer konnten wir dann endlich mit den Dreharbeiten beginnen. Nachdem fast alles Organisatorische geklärt war, mussten wir dann aber noch eine Weile auf den Kameramann meines Vertrauens warten, der in den Wüsten der Welt eine Doku drehte. Aber er und kein anderer sollten eben diese außergewöhnliche Geschichte mit besonders schönen Bildern adeln. Da konnte ich keine Kompromisse machen.


Gedanken einer Autorin: Drei große Herausforderungen

Schließlich hatte ich mein Dreamteam zusammen, und es konnte losgehen. Dabei stand ich vor drei großen Herausforderungen bei der praktischen Umsetzung:


1) Mir war es wichtig, Florian, der durch seine Fernsehbeiträge in gewisser Weise schon ein Routinier vor der Kamera ist, dazu zu bringen, auch über Dinge zu sprechen, von denen er nicht gerne erzählt. Den schwierigen Momenten, den Augenblicken der Zweifel, der haarrissfeinen Brüchigkeit seiner Stärke. Das war nicht wirklich leicht, denn Flo ist und bleibt ein Kämpfer, auch vor der Kamera. Aber ich denke, an der einen oder anderen Stelle ist es gelungen, auch die andere Seite des strahlenden Machers zu zeigen.


2) Mit Danny wollte ich alle wichtigen Stationen abgehen, die ihn während der letzten 19 Jahre geprägt haben: die Raststätte Hunsrück, sein altes Speditionsunternehmen Dachser, seinen emotional schwierigen Alltag, seine depressiven Phasen, seine Behandlung in einer psychotherapeutischen Tagesklinik, die schicksalhafte Entdeckung von Florian in der Sendung "Plasberg persönlich" und einiges mehr. Nur so, dachte ich, kann man nachvollziehen, was Danny die ganzen Jahre über durchgemacht und still erlitten hat. Doch es gab auch Momente des Zweifels. Wir filmten Danny vor dem Fernseher als er sich erneut Florians Auftritt in der WDR-Talkshow ansah. Plötzlich begannen seine Schultern zu beben, er fing heftig an zu weinen. Wir waren geschockt und unterbrachen nach einigen Augenblicken den Dreh. Waren wir zu weit gegangen? Auch an der Raststätte Hunsrück brachen die angestauten Emotionen über Danny herein. Nie zuvor war ihm das hier passiert, erzählte er uns. Doch während der Dreharbeiten erlebte Danny seine ganze verdrängte Vergangenheit noch einmal. Darf man so etwas zeigen? In diesen Augenblicken haben wir alle richtig schwer schlucken müssen. Die Geschichte ist dem gesamten Team sehr nah gegangen. Noch auf der Raststätte habe ich mich bei Danny entschuldigt. Ich dachte, es sei alles zuviel für ihn. Doch er tat genau das Gegenteil von dem, was ich erwartet hatte. Er bedankte sich bei mir. Dafür, dass er durch den Film die Chance bekam, das Geschehene wirklich noch einmal richtig zu durchleben, um es dann ein für alle Mal hinter sich zu lassen. Mir fiel ein Stein vom Herzen.


3) Was noch bleib, war die letzte große Hürde: Das Wiedersehen


Kann man eine unglaubliche Geschichte verschenken? Vom Höhepunkt des Films

Viele Tage habe ich mich damit auseinandergesetzt: Wann soll das Wiedersehen stattfinden, wo soll es stattfinden – aber vor allem wie?! Ruhig sollte es sein, das war die einzige Bedingung meiner Protagonisten. Okay…ganz einfach. Nicht wirklich. Es sollte ein ruhiger Ort, ein geschützter Ort, ein schöner Ort sein. Kein Fluglärm, keine neugierigen Zaungäste, keine unvorhergesehenen Störungen. Ein Ort, der rollstuhlgerecht ist, ein Ort zum Wohlfühlen. Und was, wenn es regnet?! Nach tagelangen Recherchefahrten fand ich dann im Privatgarten des Schloss Vollrads bei Oestrich-Winkel den perfekten Ort. Wir waren dort herzlich willkommen. Regnen würde es eben nicht, basta. Nun kam die schwierigste Frage: Wie sollten sich die beiden wiedersehen? Sollte die Kamera jeden ihrer Blicke, jede ihrer Gesten, jede Gemütsregung hautnah einfangen? Der Film arbeitet auf diesen Höhepunkt zu. Darf man die Erwartungen der Zuschauer enttäuschen, wenn man in den ersten Augenblicken einen kleinen Abstand zum Geschehen hält? Danny und Flo haben uns diese Entscheidung überlassen. Sie vertrauten uns, obwohl sie sich zu Beginn nicht einmal hätten vorstellen können, dass wir beim Kennlernen überhaupt dabei sind. Lange beriet ich mich mit meinem Kameramann, mit Freunden, was richtig und angemessen wäre. Die letzte Entscheidung lag bei mir. Plötzlich war mir klar, dass es nach all den Geschenken, die ich von meinen Protagonisten bisher bekommen hatte – die Geduld, die Offenheit, die emotionalen Augenblicke – dass es nun an mir war, ihnen ebenfalls etwas zu schenken. Nämlich die ersten Momente ihres Wiedersehens. Ich entschied mich dafür, während der ersten Minuten mit der Kamera in respektvollem Abstand zu bleiben. Im Film sehen wir Flo und Danny also aus einigen Metern Entfernung und können ihre anfänglichen Worte nur über die Funkmikrofone hören. Erst dann nähern wir uns mit der Kamera und teilen die große Wiedersehensfreude mit den Protagonisten. Und die gab es zweifellos. Auch wenn es geregnet hat – was allen herzlich egal war. Ich hoffe, das war die richtige Entscheidung. Ich hoffe, die Zuschauer sehen es wie ich. Es gibt viele bewegende Momente, Höhepunkte, in dem Film. Der wirkliche Höhepunkt ist jedoch, dass diese Geschichte überhaupt erzählt werden durfte! Mir persönlich lag dabei besonders am Herzen, dass wir beim Wiedersehen von Danny und Flo bewusst eine Grenze ziehen. In Zeiten, wo Fernsehen alles darf und macht, wollten wir damit ein kleines Zeichen setzen.



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